{"id":13786,"date":"2016-06-29T22:10:37","date_gmt":"2016-06-29T20:10:37","guid":{"rendered":"http:\/\/trollbar.de\/?p=13786"},"modified":"2024-06-14T17:10:50","modified_gmt":"2024-06-14T15:10:50","slug":"wir-schaffen-das-wallah","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/trollbar.de\/2016\/wir-schaffen-das-wallah-13786","title":{"rendered":"Wir schaffen das, wallah!"},"content":{"rendered":"

Ich habe die letzten N\u00e4chte nicht gut geschlafen. Schuld ist die Arbeit. Denn seit ein paar Monaten koordiniere ich die Integration von gefl\u00fcchteten Menschen in die Hochschulausbildung. Als ich damals nach Mannheim gezogen bin, h\u00e4tte ich nie gedacht, dass ich mal was mit Asyl zu tun haben w\u00fcrde. Aber das bleibt halt h\u00e4ngen, wenn so viele Menschen nach Deutschland fliehen und hier bei der Integration unterst\u00fctzt werden m\u00fcssen. Mein Freund in Berlin arbeitet in einer Unterkunft f\u00fcr gefl\u00fcchtete Menschen, eine andere Freundin, ebenfalls in Berlin, koordiniert verschiedene Tr\u00e4ger in der Fl\u00fcchtlingsarbeit. Noch ein Freund bietet Deutschunterricht in Sachsen an. Nope! Nicht f\u00fcr die Sachsen.<\/p>\n

Von der Kunst, den richtigen Abstand zu finden<\/strong><\/p>\n

Zusammen mit einem Unternehmen bereiten wir mehr als ein Dutzend gefl\u00fcchtete Menschen auf ein Studium vor. Gerade neulich fragte mich die Sekret\u00e4rin eines Fachbereichs: „Wie nah sind Sie eigentlich an den Fl\u00fcchtlingen dran?“ „Relativ distanziert“, antwortete ich. Und es stimmt.<\/p>\n

Nach meinen Erfahrungen mit einem Studienprojekt, das wir in Leipzig in Kooperation mit der Addis Ababa University aufgebaut hatten, habe ich mir geschworen, mich nicht mehr all zu stark zu involvieren. Denn ich musste schnell lernen, dass ein solches Projekt \u00fcber kulturelle Grenzen hinaus extrem kr\u00e4ftezehrend ist. Besonders in Leipzig, besonders als direkter Ansprechpartner f\u00fcr die Studierenden aus verschiedenen afrikanischen L\u00e4ndern. Zwar haben jetzt auch die Gefl\u00fcchteten meine Handynummer, aber sie wissen ganz genau, dass sie mich da ausschlie\u00dflich in Notf\u00e4llen anrufen d\u00fcrfen. Und sie wissen im Gegensatz zu den \u00c4thiopiern damals: Eine kaputte Kaffeemaschine ist kein Notfall.<\/p>\n

Dann stimmt es aber auch nicht.<\/p>\n

Ich bin doch viel n\u00e4her dran, als mir lieb ist. Gestern zum Beispiel. Wir mussten zwei Personen mitteilen, dass sie aus formalen Gr\u00fcnden kein Studium aufnehmen d\u00fcrfen. Das ist bitter, weil die Teilnehmer unseres Vorbereitungskurses nat\u00fcrlich viele Hoffnungen mit einem Studium verbinden. Da w\u00e4re die beinahe einmalige Chance, eine gute Ausbildung zu absolvieren, die sie auf jeden Fall weiterbringen w\u00fcrde. Mehr wohl sogar, wenn sie eines Tages in ihre L\u00e4nder zur\u00fcckkehren sollten. Da w\u00e4re die ganz banale Tatsache, dass sie, w\u00e4hrend ihr Asylverfahren l\u00e4uft, nicht zum Nichtstun verdammt sind. Ein Teilnehmer kommt aus Afrika™ und steht damit ganz hinten im Entscheidungsprozess. Seit gut zwei Jahren lebt er hier, sein Interview hatte er noch immer nicht. Kein Interview, kein Anspruch auf Deutsch- und Integrationskurs. Kein Deutsch- und Integrationskurs, mangelnde Integration in die Gesellschaft. You know what I mean …<\/p>\n

Entsprechend gedr\u00fcckt war die Stimmung, als wir den beiden offenbarten, was Sache ist. Es tat weh, die Reaktion einer Person in deren Gesicht ablesen zu k\u00f6nnen. Shattered dreams. Nat\u00fcrlich haben wir uns zusammen mit dem Unternehmen und anderen wichtigen Beteiligten Gedanken \u00fcber Optionen gemacht. Au\u00dferdem schickte das Jobcenter eine Mitarbeiterin, die die beiden Personen schon kannte, sodass dass die Teilnehmer nicht in ein Loch fallen w\u00fcrden.1<\/a><\/sup><\/p>\n

Wenn ich A sage, kommt oft B an. Und C. Und Y.<\/strong><\/p>\n

Das ist uns, denke ich, gut gelungen. Denn als wir das Gespr\u00e4ch beendeten, l\u00e4chelten sie erleichtert. Dabei ist das \u00fcber die kulturellen Grenzen hinweg gar nicht so einfach zu bewerkstelligen. Meine Kollegin, die aus dem Norden Deutschlands stammt, und ich, Ossi, sind als direkte Ansprechpartner f\u00fcr die Gruppe quasi Super Germans: Wir sind super direkt, super unemotional, super streng; in Summe: super fies. Denn die Teilnehmer stammen mehrheitlich aus orientalischen Kulturen. Einmal sprachen wir mit dem Kurs, weil er zu langsam war und zu bef\u00fcrchten stand, dass der Stoff nicht geschafft wird, wenn wir das Tempo nicht anziehen. Wir sagten: „Der Kurs ist zu langsam und wir schaffen den Stoff nicht, wenn wir das Tempo nicht anziehen.“ Die Teilnehmer verstanden: „Wir wollen euch hier nicht haben und ziehen daher das Tempo ordentlich an, damit ihr hier rausfliegt!“ Damn you, interkulturelle Kommunikation!<\/p>\n

In orientalischen Kulturen, in denen Kommunikation im Vergleich zur deutschen Kultur extrem mit Kontext aufgeladen und indirekt ist, h\u00e4ngen Entscheidungen weniger von Formalien als Beziehungen ab. W\u00fcrde ich hier z.B. jemanden sagen, dass ich den Chef einer Firma kenne und gern den Lebenslauf weiterleite, dann wei\u00df mein deutsches Gegen\u00fcber bei einer Ablehnung: Okay, er hat’s versucht, aber es hat nicht geklappt. B\u00f6te ich dasselbe einem Syrer an, dann m\u00fcsste ich damit rechnen, dass er erbost reagiert: „Wie, das klappt nicht? Ich denke, du kennst den Chef!? Du willst doch nur nicht!“<\/p>\n

Das habe ich zum Gl\u00fcck fr\u00fch in einem interkulturellen Seminar von einer deutsch-iranischen Trainerin<\/a> gelernt.2<\/a><\/sup> Sonst w\u00e4re ich hier schon so manches Mal ausgeflippt. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Sauer war ich schon \u00f6fter, zum Beispiel wenn sich jemand \u00fcber etwas beschwerte, das angeblich unfair sei. Aber durch das Training kann ich Aussagen (Was hei\u00dft „unfair“?) besser einordnen und so Missverst\u00e4ndnisse eher entschl\u00fcsseln, was dabei hilft, eine Situation aufzukl\u00e4ren, bevor sie (vollends) eskaliert. Trotz meiner sehr tiefgreifenden Erfahrungen mit S\u00fcdafrika, wo die Menschen im Vergleich zu Deutschen ebenfalls eher indirekt sind, musste ich mich erst mal in die Denkstruktur der Teilnehmer einfinden. Ich bin aber zuversichtlich, dass sie k\u00fcnftige Feedbackrunden nicht mehr total aufgeregt verlassen, weil sie glauben, wir h\u00e4tten gesagt: „Wir schmei\u00dfen euch raus!“ Haben wir nicht. Wir haben besprochen, was verbessert werden muss.<\/p>\n

„Die sollen sich uns anpassen! Nicht umgekehrt!“<\/strong><\/p>\n

Entsprechend oft bin ich am Ende der Woche total erledigt. Nun stelle man sich vor, welchem Druck die Gefl\u00fcchteten erst ausgesetzt sein m\u00fcssen. Im Gegensatz zu mir sind sie ja nicht nur punktuell mit einer neuen Kultur konfrontiert, sondern mussten komplett eintauchen. Ein Sprung ins kalte Wasser. Egal was sie machen, sie m\u00fcssen lernen, wie das hier l\u00e4uft. Tja und dann gibt’s die lieben Deutschen, die nichts besseres zu tun haben, als zu jammern: „Die™ m\u00fcssen sich uns anpassen!1!“<\/p>\n

DAS! TUN! SIE! DOCH! Obwohl ich aus Sachsen komme, kann ich bis heute nicht nachvollziehen, woher die Islamisierungsphantasien kommen. Die sollen sich uns anpassen. In den letzten Monaten h\u00f6rte ich diesen Satz oft. Einmal fiel der, als ich gerade erz\u00e4hlte, dass wir in der Gruppe gern die Formel „Wallah, wallah!“ verwenden, um zu unterstreichen, dass wir etwas ernst meinen. Also eigentlich nichts Dramatisches. Dennoch war es einer Kollegin wichtig, darauf hinzuweisen, wie das zu laufen habe, hier in Deutschland. Aber gut, die Leute gucken auch immer ein bisschen schockiert, wenn ich was Arabisches sage. Vielleicht haben sie ja Angst, dass ich schon konvertiert bin. Haha.<\/p>\n

Ich denke, nichts spricht dagegen, wenn wir den Gefl\u00fcchteten den Einstieg in die Gesellschaft erleichtern und sie \u2013 soweit es geht \u2013 da abholen, wo sie gerade sind. Das hei\u00dft auch, dass wir uns in der Kommunikation \u00f6ffnen oder andere Annehmlichkeiten anbieten. Man denke etwa an den Ramadan. Die meisten unserer Teilnehmer begehen das Fasten und erkl\u00e4rten, dass die Gebete zu dieser Zeit wichtig sind. Sie haben akzeptiert, dass es in Deutschland nicht \u00fcblich ist, andauernd T\u00e4tigkeiten f\u00fcrs Beten zu unterbrechen, aber zumindest w\u00e4hrend der Fastenzeit haben wir es ihnen erm\u00f6glicht, um den Mittag herum ein Gebet einzuschieben. Da die Vorbereitungsgruppe diesbez\u00fcglich homogen ist, sahen wir da kein Problem.3<\/a><\/sup> Auch das involvierte Lehrpersonal hat \u2013 Juhu! \u2013 problemlos mitgespielt.4<\/a><\/sup><\/p>\n

„Das ist schon okay, denn Allah sieht das nicht!“<\/strong><\/p>\n

Dass einige Teilnehmer freitags auch noch in die Moschee wollten, musste ich allerdings abbiegen. Zu Beginn hatte ich, der ostdeutsche Atheist, neben den drei Verwaltungsprinzipien5<\/a><\/sup> keine gro\u00dfartigen Argumente, aber Gott sei Dank (*scnr*) haben wir auch einen muslimischen Dozenten, der in der Gruppe lehrt. Der erkl\u00e4rte mir: „F\u00fcr Allah ist das Studium bzw. die Arbeit genauso wichtig wie das Gebet, sodass man nicht zwingend in die Moschee gehen muss.“ Das hat die Gruppe problemlos akzeptiert.<\/p>\n

Au\u00dferdem habe ich neulich gelernt: Allah sieht nicht alles! Als ich mit meiner Kollegin gerade in die Mittagspause gehen wollte, sah ich zwei Teilnehmer auf einer Bank sitzen, einer rauchte. Daraufhin fragte ich: „Begehen Sie nicht den Ramadan? Sie d\u00fcrfen doch gar nicht rauchen!?“ Er entgegnete: „Das ist schon okay! Allah sieht das nicht, weil \u00fcber mir der Baum ist.“<\/p>\n

Wenn der Kurs mal nicht spurt, dann gibt’s Lehre unter freiem Himmel.<\/p>\n

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<\/div>\n

Show 5 footnotes<\/span><\/a><\/p>\n

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  1. W\u00e4re ich noch in Sachsen, h\u00e4tte ich die Koordination eines solchen Projekts wohl abgelehnt, weil die Unterst\u00fctzung dort deutlich geringer w\u00e4re und uns vermutlich viel mehr Steine in den Weg gelegt w\u00fcrden, als wir es hier manchmal erleben. Hier gibt es verschiedene Akteure, die kooperieren und versuchen, austrampelte Pfade zu verlassen. Arschl\u00f6cher gibt’s aber auch hier. ↩<\/a><\/span><\/li>\n
  2. Mein Lieblingskuriosit\u00e4t: Taarof<\/a>. <3 ↩<\/a><\/span><\/li>\n
  3. Und au\u00dferdem: So’n Gebet ist k\u00fcrzer als ’ne Zigarettenpause! ↩<\/a><\/span><\/li>\n
  4. Mir w\u00e4re das zu viel gewesen und ich w\u00e4re dann wohl kurz rausgegangen. ↩<\/a><\/span><\/li>\n
  5. 1. Das haben wir schon immer so gemacht. 2. Da k\u00f6nnte ja jeder kommen. 3. Wo kommen wir denn da hin? ↩<\/a><\/span><\/li>\n<\/ol>\n<\/div>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

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