In Sachsen redet man nicht so gern über Fehlentwicklungen. Denn das Bundesland ist einfach großartig. Die Dresdner finden ihre Stadt wegen allem Möglichen spitze und die Leipziger wissen, dass sie aus Prinzip immer noch ein bisschen besser sind. Die Wurzener? Die haben immerhin noch Kekse.
Wenn man so grandios ist, dann ist man vielleicht auch nicht so empfänglich für Kritik und Warnungen. In Sachsen, wo immer alles ein bisschen brauner ist als anderswo, ist eben auch das Schweigen über Missstände immer noch ein bisschen lauter als anderswo. Da kann ein Buch wie Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen eigentlich nie zu einem richtigen Zeitpunkt kommen.
Das zeigte auch das Hin und Her zwischen dem Ch. Links Verlag und der sächsischen Landesvertretung in Berlin: Weil die Vertretung aus verschiedenen Gründen für die Präsentation des Buches keinen Termin finden konnte oder wollte, bekam der Verlag für die Vorstellung Asyl bei den Thüringern.
Das Buch ist für Sachsens politische Vertreter ohne Frage ärgerlich, weil es viele Probleme auflistet, die es nach offzieller Lesart gar nicht gibt. Es konnte also, wie die beiden Herausgeber Heike Kleffner und Matthias Meisner im Vorwort korrekt schreiben, kein bequemes werden. Allerdings: Nichts in Unter Sachsen ist wirklich neu. Wer hinhören wollte, konnte viele der Geschichten über Rassismus, Fremdenhass und Chauvinismus schon seit Jahren kennen. Neu ist jedoch, dass das Bundesland aus so vielen Perspektiven betrachtet wird. Über 50 Autorinnen und Autoren haben in verschiedenen Stücken einen Einblick in ihre Erfahrungen mit Sachsen gewährt. Man bekommt eine Ahnung, warum Pegida ausgerechnet in Dresden so einen Erfolg haben konnte.
Dabei ist hier und da auch Platz für eher absurde Erklärungen, für die eigentlich auch Sachsen empfänglich sein dürften, weil sie in das typische Erklärmuster passen, warum der Sachse jetzt irgendwie doch unschuldig ist. In einem Zwischenruf schreibt etwa der Grünen-Politiker Werner Schulz darüber, wie Sachsen und speziell das Sächsische in der DDR aufgenommen wurden (nicht gut) und welche Erfahrung er in einer Berliner Kneipe machen musste, als er mit seinem Dialekt auffiel (schlechte). Schulz kommt zu dem Ergebnis: „Im ‚Tal der Ahnungslosen‘ ist auch daraus eine Wagenburgmentalität entstanden, in der Andere und Fremde als Eindringlinge und zunächst skeptisch betrachtet werden.“
Das Problem an Sachsen ist nur: Es ist keine Skepsis. Und sie ist auch nicht von kurzer Dauer. Worüber das Bundesland eigentlich reden sollte: Rassismus. Oder die Nazis im sächsischen Outback. Das Buch tut dies. Zum Ärger der Sachsen unwidersprochen. Üblich ist das nämlich nicht. Wenn Missstände angesprochen werden, dauert es normalerweise keine fünf Sekunden, bis irgendjemand (gern auch hochrangige Politiker) das Problem kleinredet oder gar negiert. Wenn man durch die mehr als 300 Seiten blättert, ahnt man, was da für Kräfte aufgewendet werden müssen, um sich die Umstände schönzureden.
Schockierend etwa das polizeiliche Anrufprotokoll in Thomas Datts Beitrag Flucht aus Colditz, dass sich, obwohl gekürzt, über fünf Seiten erstreckt. Anlass für die Anrufe, die über eine Dauer von mehr als drei Stunden getätigt wurden: Rund 100 vermummte Nazis hatten sich zusammengerottet, um den Laden eines Mannes anzugreifen, dessen Söhne in der dahintergelegenen Turnhalle Punkkonzerte veranstalten. Die Polizei schritt nicht ein. Sie reagierte auch nicht, als sie schon Tage zuvor „Hinweise auf mögliche Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken erhalten hatte“. Colditz. Wahrlich eine rechtsfreie Zone.
Die 9000-Einwohner-Stadt sticht da aus den sächsischen Verhältnissen auch nicht besonders hervor. Im Prinzip ist es egal, über welchen sächsischen Ort berichtet wird. Sei es Clausnitz, wo Männer vor einem Bus mit geflüchteten Kindern, Frauen und Männern marodierten. Sei es die Anschlagsserie in Freital, die im Gerichtsverfahren von einer Nebenklagevertreterin als „Terror mit Ansage und Billigung“ bezeichnet wurde. Oder sei es – wieder – Freital, wo ein privater Träger gemeinsam mit Geflüchteten keine rassistischen und rechtsextremen Schmierereien übermalen konnte, weil die Beteiligten von Passanten massiv gehindert wurden. Es gibt so viele sächsische Beispiele, dass es eine ganze Buchserie bräuchte.
Viel Platz für Hoffnung bleibt da nicht. Die im Buch vorgestellten wichtigen Initiativen wie Hoaxmap und Straßengezwitzscher verblassen regelrecht und ungerechtfertigt vor dem wuchtigen Hintergrund des dauerfeindseligen Sachsens.
Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen ist im Ch. Links Verlag erschienen und für 18 Euro erhältlich.
(Offenlegung: Im Buch findet sich auch ein Beitrag von mir.)
2 Reaktionen
[…] Im März erschien der Sammelband Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen über rechte Bewegungen, Gewalt und Rassismus. Auf trollbar schreibt Ali Schwarzer, der in dem Band mit seinem text „Eine unversöhnliche Abschiedsrede“ vertreten ist, über das Buch. […]
[…] Unter Sachsen: Viel Hoffnung bleibt nicht „Ein Buch wie “Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen“ kann eigentlich nie zu einem richtigen Zeitpunkt kommen. Denn das Buch ist für Sachsens politische Vertreter ohne Frage ärgerlich, weil es viele Probleme auflistet, die es nach offizieller Lesart gar nicht gibt. Allerdings: Nichts in „Unter Sachsen“ ist wirklich neu. Wer hinhören wollte, konnte viele der Geschichten über Rassismus, Fremdenhass und Chauvinismus schon seit Jahren kennen. Neu ist jedoch, dass das Bundesland aus so vielen Perspektiven betrachtet wird. Über 50 Autorinnen und Autoren haben in verschiedenen Stücken einen Einblick in ihre Erfahrungen mit Sachsen gewährt. Man bekommt eine Ahnung, warum Pegida ausgerechnet in Dresden so einen Erfolg haben konnte. […]